Günter Graetz kam am 9. März 1918 in Berlin als Sohn des jüdischen Kaufmanns Harry Graetz und dessen Ehefrau Hertha, geb. Fabian, zur Welt. Seine Eltern hatten im Mai 1917 geheiratet. Günters Vater nahm als Sergeant am Ersten Weltkrieg teil, seine Mutter lebte noch bei ihren Eltern Adolf und Martha Fabian in der Marsiliusstraße 25 – diese Straße existiert nicht mehr, sie befand sich westlich des heutigen Strausberger Platzes.
Harry Graetz wurde nach dem Ende des Krieges im November 1918 aus der Armee entlassen. Die kleine Familie zog in die Blumenstraße 7, doch sie sollte nur kurze Zeit bestehen: Harry Graetz starb im Alter von nur 30 Jahren am 18. April 1921 in Dr. Wieners Heilanstalt für Nerven- und Gemütskranke in Bernau an einer Krankheit, die er sich im Krieg zugezogen hatte.
Hertha Graetz war nun verwitwet und alleinerziehende Mutter eines 3-jährigen Sohnes. Sie zog zurück zu ihren Eltern in die Marsiliusstraße 25 und betrieb in der Blumenstraße 7 eine Betriebswerkstatt für Damenkleider, in der sie acht Arbeiterinnen beschäftigte. Sie belieferte Geschäfte, arbeitete aber auch für private Kunden. Der Schneidereibetrieb sicherte Mutter und Sohn ein ausreichendes Einkommen.
1926 zog Günter Graetz mit seiner Mutter und Großmutter – sein Großvater war 1922 verstorben – in eine Drei-Zimmer-Wohnung in der Britzer Straße 23 (heute Kohlfurter Straße 46) in Kreuzberg. Dort starb Martha Fabian am 24. März 1928.
Günter Graetz besuchte seit 1926 das Luisenstädtische Realgymnasium in der Sebastianstraße. Er hatte schon vor 1933 sehr unter dem dort herrschenden Antisemitismus zu leiden, jedoch verschlimmerte sich die Lage nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten so, dass der demokratisch gesinnte Direktor der Schule Hertha Graetz riet, ihren Sohn aus der Schule zu nehmen, „da er sonst für nichts mehr garantieren könne“. Günter Graetz ging im Juni 1933 nach der 10. Klasse vom Gymnasium ab. Sein Traum von einem Ingenieur-Studium rückte in weite Ferne.
Zur selben Zeit musste Hertha Graetz den Schneidereibetrieb aufgeben und ihre Angestellten entlassen, weil der größte Teil ihrer Kundschaft nicht mehr bei einer Jüdin arbeiten lassen wollte. Sie entschloss sich daraufhin zur Auswanderung : Am 1. August 1933 verließen Hertha und Günter Graetz Berlin und begaben sich nach Amsterdam. Durch die schnelle Ausreise waren sie gezwungen, die Einrichtung der Wohnung und der Betriebswerkstatt weit unter Wert zu verkaufen.
In Amsterdam fand Hertha Graetz eine Stelle als Kleidernäherin und Günter verdiente Geld mit Gelegenheitsarbeiten. Noch beschäftigte er sich mit dem Gedanken, doch vielleicht in den Niederlanden sein Abitur zu machen und zu studieren. Er sah aber sehr schnell ein, dass er dazu erst sehr gut die Sprache erlernen müsste, um sich dann dem Studium zu widmen und dazu fehlte Zeit und Geld.
Als 1935 das Arbeitsverbot für Ausländer erlassen wurde, wurden beide entlassen. Sie entschlossen sich daraufhin erneut zur Emigration: Am 20. April 1935 legte das Schiff „Aldabi“ von Rotterdam nach Buenos Aires ab. Hertha und Günter Graetz mussten als Touristen 1. Klasse reisen, da sie, laut den damaligen Einreisebestimmungen, nur so das Visum für Argentinien erteilt bekamen – für gewöhnliche Einwanderer war das Land bereits gesperrt.
Hertha Graetz war in Buenos Aires zuerst in Stellung als Näherin, dann als Zuschneiderin und später arbeitete sie privat. Ihr Sohn fand Arbeit bei OSRAM. Günter Graetz schildert in seiner Entschädigungsakte: „[Ich] freute mich, in diesem Unternehmen angestellt worden zu sein, bis mir und noch drei weiteren Angestellten das Leben unmöglich gemacht wurde, weil wir uns weigerten in die Arbeitsfront, Auslandsgruppe, einzutreten. Ich tat es nicht, weil ich es als Jude nicht konnte und die anderen drei weil es überzeugte Sozialdemokraten waren. Das spitzte sich dermaßen zu, dass ich es vorzog, 1938 OSRAM zu verlassen ...“
Gerade in Argentinien gab es zahlreiche Sympathisanten der Nationalsozialisten: 1938 fand in Buenos Aires eine nationalsozialistische Massenveranstaltung mit großen Hakenkreuzfahnen und Unterstützungsreden für Hitler statt. Nach Ermittlungen der argentinischen Regierung bestand die Menge neben 1.400 Mitgliedern der Auslandsorganisation – in Argentinien lebende Parteimitglieder der NSDAP – aus 20.000 in anderen nationalsozialistischen Vereinen organisierten Anhängern.
Günter Graetz bildete sich in Elektrotechnik und Fotografie weiter und arbeitete dann als Gehilfe bei einem Elektriker. Aufgrund der politischen Situation in Buenos Aires übersiedelten Mutter und Sohn im Februar 1945 nach Montevideo, Uruguay.
Auch hier verdiente Hertha Graetz ihren Lebensunterhalt durch Ausführung von Näharbeiten, Günter Graetz arbeitete zunächst als Hilfselektriker, später bei einer Reklame-Firma als Fotograf. Er heiratete am 10. Januar 1949 Maria Alfonsa Altamiranda, geb. am 1. Juli 1915 in Montevideo. Sie bekamen zwei Kinder: Alberto (*1952) und Lilián Martha (*1954). Die finanzielle Situation der Familie war zunächst sehr schwierig, da Günter Graetz als Aushilfs-Kinooperateur und mit der gelegentlichen Reparatur von elektrischen Geräten nur wenig verdiente. Seit 1965 arbeitete er als Techniker bei Grundig, ab 1970 entwickelte und installierte er Alarmsysteme.
1977 gründete er mit seinem Sohn Alberto eine Firma für Sicherheitssysteme, die aufgrund des großen persönlichen Einsatzes von Günter Graetz florierte und wuchs. 1983 kehrte er noch einmal nach Berlin zurück, erkannte die Orte seiner Kindheit und Jugend aber kaum wieder.
Günter Graetz verstarb plötzlich und unerwartet am 11. Oktober 1986 an einem schweren Herzinfarkt. Seine Mutter war bereits 1959 in Montevideo verstorben.
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