Die jüdische Anarcho-Syndikalistin und Anarcha-Feministin Milly Witkop ging wegen der katastrophalen Lebensbedingungen und der antijüdischen Stimmung 1894 ins Exil nach London und entwickelte sich dort, beeinflusst von anarchistischen Zirkeln, zu einer Gewerkschaftsaktivistin in den lokalen Fabriken im Londoner East End.. 1896 lernte sie Rudolf Rocker kennen, der bis zu ihrem Tod ihr Lebensgefährte wurde. Mit ihm gab sie in London die jüdisch-anarchistischen Zeitschriften Arbeyter Fraynd und Germinal heraus. Am 22. Dezember 1907 kam der gemeinsamer Sohn Fermin Rocker zur Welt.
1916 wurde Milly Witkop wegen antimilitaristischer Agitation für 2 Jahre inhaftiert.
Im November 1918 ließ sie sich mit ihrem Mann und Sohn in Berlin nieder, wo sie sich mit Rudolf Rocker am Aufbau der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft Freie Arbeiter Union Deutschland (FAUD) beteiligte. Hier wurde sie zu einer der treibenden Kräfte der syndikalistischen Frauenbünde und gab mit anderen Frauen zusammen die Beilage Der Frauenbund in der Zeitschrift Der Syndikalist heraus.
Neben der Verkürzung der Arbeitszeit für Hausfrauen galt die Geburtenregelung als weitere programmatische Säule der syndikalistischen Frauenbünde. Hierbei forderten die Frauen Sexualaufklärung, ungehinderten Zugang zu Verhütungsmitteln, die Abschaffung des Paragraphen 218 sowie als Kampfmittel Gebärstreiks. Grundsätzlich sollten Frauen über ihre Körper selbst bestimmen. Auch wenn die Frauen des Syndikalistischen Frauenbundes an einer autonomen Organisierung innerhalb der FAUD interessiert waren, ging es ihnen keineswegs um eine Separierung aus Prinzip oder um den Bruch mit den Männern. Die Befreiung aller Menschen war für sie nur geschlechterübergreifend denkbar.
Parallel zu ihren syndikalistisch-frauenrechtlichen Aktivitäten kämpfte Milly Witkop gegen Rassismus und Antisemitismus. Die außerordentliche Gefährlichkeit des Antisemitismus sah Milly Witkop darin, dass Judenfeindschaft wesentlich mehr ist als ausschließlich ein Ausdruck wirtschaftlicher Krisenphänomene. Vielmehr müsse sie auch psychologisch beurteilt werden, als ein Ergebnis von Erziehung. Sie erkannte im rassistischen, letztlich eliminatorischen Antisemitismus eine Ideologie, die auf das Bewusstsein der Menschen abzielt, auf deren Gefühle einwirkt, deren Ressentiments prägt und damit menschenverachtenden Gesinnungen wie dem Nationalsozialismus Tür und Tor öffnet.
Nach dem Reichstagsbrand 1933 verließ sie gemeinsam mit ihrem Mann Britz, wohin die Familie ein Jahr vorher gezogen war. Exilstationen waren die Schweiz, Südfrankreich, Paris und London, schließlich im Sommer 1933 die USA. 1937 zogen Milly Witkop und Rudolf Rocker aus New York in die anarchistisch ausgerichtete Mohegan-Kommune am Ufer des Lake Mohegan in Crompond.
Die Verfolgung und Ermordung des europäischen Judentums änderten die Einstellung des Ehepaares. Dem Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten war für sie mit den bislang bekannten moralischen Maßstäben eines kategorischen Pazifismus und einer grundsätzlichen Antikriegshaltung nicht länger beizukommen.
Vor dem Hintergrund der Shoa begrüßte Milliy Witkop die Gründung des Staates Israel, zweifelte aber als Anarchistin, ob mit Hilfe eines Nationalstaates die brennenden Probleme in dem neuen multiethnischen Staat gelöst werden könnten. Sie plädierte für eine gemeinschaftliche Verwaltung des Landes durch die arabische und jüdische Bevölkerung.
Wie Rocker sah sie die größte Gefahr in der Nachkriegsordnung im Stalinismus.
Mit 78 Jahren verstarb Milly Witkop am 23. November 1955 in den USA.
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