Dr. Leon Calamaro wurde am 1.11.1896 in Volos, Griechenland, geboren. Sein Vater war David Calamaro, geb. 1867 in Griechenland. Von seiner Mutter wissen wir nur, dass sie aus Izmir (damals Smyrna) oder Konstantinopel stammte. Vermutlich gehörte sie zu den Griechen und Griechinnen, die im Zuge der kleinasiatischen Katastrophe 1922 auf das griechische Festland vertrieben wurde (1). Leon hatte noch drei Brüder: Arthur geb. am 22.10.1892 in Volos, Isidor und Edmund (2).
Die Familie ist 1909 nach Leipzig gezogen. Leon ging dort 1916 zur Schule und machte 1916 das Abitur. Wann die Familie nach Berlin zog, wissen wir nicht. Sicher ist, dass Leons Vater, David Calamaro, 1920 in Berlin eine Import-Export –Textilfirma für Mieder-, Strumpfwaren und Stoffe in Berlin mit einer Niederlassung in Athen gründete („Bika“ oder AVIA an der Heerstraße 91).
Leon studierte Jura in Leipzig und Berlin und promovierte in Heidelberg 1920 zum Dr. Jur.. Dort lernte er auch seine spätere Ehefrau Karoline Ernestine Thomas kennen (geb. 22.9.1888 in Barmen -später Wuppertal).
Nach seiner Promotion lebte Leon in Berlin und war als Prokurist in dem familieneigenen Unternehmen tätig. Als sein Vater David bei einem Motorradunfall am 16.07.1923 auf der Chaussee Berlin-Prenzlau bei Bebersee starb (3), übernahm der älteste Sohn Arthur die Leitung der Firma. Aus den Entschädigungsakten geht hervor, dass die Firma am 11.1.1926 im Handelsregister unter dem Namen Arthur Calamaro eingetragen wurde.
Leon war weiterhin in der Firma tätig. 1921 heirateten er und Karoline Ernestine. Sie bekamen zwei Kinder- Sonjia Fortouni und Sylvio David, beide sind in Berlin geboren: Sonjia am 30.11.1922, Sylvio am 15.11.1924. Da Karoline Ernestine keine Jüdin war, wissen wir nicht, welche Rolle die jüdische Religion in der Familie spielte. Leon war Mitglied in der Jüdischen Gemeinde in Berlin. Die Familie wohnte zunächst in dem Familienbesitz in der Friedrichsruher Straße 8/9 in Schmargendorf, ab 1930 in Berlin-Zehlendorf, Machnower Straße 29. Unmittelbar nachdem die Nationalsozialisten an die Macht kamen, emigrierte die Familie im Frühjahr 1933 nach Griechenland und wohnte in Athen. Leon kehrte im September 1936 noch einmal nach Berlin zurück, da sein Bruder Arthur (4) verstorben war. Die Umsätze der Firma waren infolge der reichsweiten Boykotte jüdischer Geschäfte, Warenhäuser, Ärzte, Banken, Rechtsanwälte und Notare am 1.4.1933 , deren Ziel es war, die Juden aus dem Wirtschaftsleben zu verdrängen, rapide zurückgegangen. Nach Arthurs Tod erbten Leon und sein nächstälterer Bruder Isidor das Unternehmen, dessen stille Teilhaber sie schon vorher gewesen waren. Leon versuchte die Firma lebensfähig zu erhalten. 1937 verließ er – vermutlich zusammen mit seinem Bruder Isidor- Deutschland endgültig und vertraute die Verwaltung der Firma und der Häuser der langjährigen und loyalen Freundin der Familie und Mitarbeiterin, Anna Hess, an. Sie war schon vor 1933 in dem Berliner Unternehmen als Sekretärin tätig und ist nun die Handlungs-und Generalbevollmächtigte bis zu dessen erzwungener Liquidation 1941.(5) Am 25.5.1941 wurde es im Handelsregister gelöscht.
Die Liquidation betraf auch die Häuser der Familie Calamaro am Kurfürstendamm 140 und in der Friedrichsruher Str. 8-9 (Berlin-Schmargendorf). Die erzwungene Liquidation war für die Familie Calamaro mit enormen sog. „Verschleuderungsverlusten“ verbunden. Das Haus am Kurfürstendamm 140 erwarb Hans Colonius, der bereits die Häuser 141 und 143 besaß. 1941 ließ er das 1901 errichtete und bis dahin als Wohn-und Ladefläche gemischt genutzte Gebäude in ein reines Bürohaus umwandeln und vermietete es an die SS.
Das Haus in der Friedrichsruher Str. wurde 1943 durch Fliegerangriffe stark beschädigt, am 15.2.1944 sogar total zerstört.
Leons Ehefrau Karoline Ernestine verstarb am 20.1.1941 an Leukämie in Athen.
Nachdem die Italiener, Deutschlands Verbündeter, an dem erbitterten Widerstand der griechischen Armee zunächst daran gescheitert waren, Griechenland zu besetzen, eilte die deutsche Wehrmacht ihnen im April 1941 zu Hilfe (Am 1.4.1941 begann der Balkanfeldzug der Deutschen gegen Jugoslawien und Griechenland.). Am 23. April 1941 kapitulierte die griechische Armee in Saloniki. Noch befanden sich einige griechische Inseln unter britischer Kontrolle. Mit Luftlandedivisionen gelang es den Deutschen Kreta schließlich im Mai zu erobern, und die Briten mussten sich zurückziehen.
Die Wehrmacht und ihre Verbündeten Italien und Bulgarien teilten Griechenland unter sich auf. Die Deutschen okkupierten die für sie strategisch wichtigsten Gebiete: Saloniki , die Region Zentral-und Westmakedonien, den Hafen von Piräus, Teile Attikas und den Westteil Kretas und einige Inseln in der Ägäis. Die deutsche Besatzung war brutal und schonungslos. Sie wird von HistorikerInnen wie Chryssoula Kambas (6) als die brutalste außerhalb der slawischen Gebiete bezeichnet. Tausende von Hungertoten, Massaker an der Zivilbevölkerung im Kampf gegen Partisanen im Rahmen von Vergeltungsmaßnahmen, Zerstörung ganzer Dörfer gehörten zu den Besatzungsmaßnahmen und -merkmalen der Deutschen. Ausplünderung von Rohstoffvorkommen und Zerstörung der Infrastruktur ruinierten die griechische Volkswirtschaft lange über die Besatzungszeit hinaus.
Während die Deutschen in der Zeit von März bis September 1943 aus ihrem Gebiet 43.000 Juden nach Ausschwitz deportierten, waren die Juden in den von Italien besetzten Gebieten noch vergleichsweise sicher. Am 1. März 1943 fuhr der erste Deportationszug von Saloniki nach Auschwitz - 18 weitere folgten. Fast zeitgleich mit dem Abschluss der Deportationen aus Saloniki , kapitulierte Italien im September 1943 gegenüber den Westmächten. Dies änderte schlagartig die Situation der Juden, die bisher in italienisch besetzten Regionen gelebt und dort Zuflucht gesucht hatten. Jetzt gerieten auch sie in das Visier der deutschen Vernichtungspolitik.
Als Griechenland im April 1941 von den Deutschen besetzt wurde, flohen Leon, seine erwachsenen Kinder und sein Bruder Isidor nach Kreta. Leons Sohn Sylvio David gibt in seinem Entschädigungsantrag an: „Während der Schlacht um Kreta gelang es mir mit einem englischen Evakuierungsschiff nach Ägypten zu fliehen. Mein Vater kehrte nach Athen zurück und ging nach Trikalla (Thessalien)“. Leon äußert sich in seinem Entschädigungsantrag wie folgt: „Ich selbst wollte ebenfalls nach Ägypten, blieb aber auf der Insel Kreta hängen und kam nicht mehr weg und musste nach 9 Monaten wieder nach Athen zurück.“ Mit Sylvio flohen seine Schwester und sein Onkel nach Ägypten.
Nach neun Monaten kehrte Leon nach Athen zurück. Hier standen nach September 1943 die Juden unter einem massiven Verfolgungsdruck. Als Leon sich als Jude hätte registrieren lassen müssen, floh er nach Trikkala. Am 5. Februar 1944 wurde er in Trikkala verhaftet- ein deutscher Buchhändler, der ihn aus Athen kannte, hatte ihn erkannt und an die Nazis verraten. Er wurde nach Larissa in ein sogenanntes Kommunistenlager gebracht und dort wegen angeblicher Spionage verhört. Leon schreibt in seinem Lebenslauf: „Da mir jedoch nichts nachzuweisen war, endete der Prozess mit einer regelrechten Verprügelung, bei der ich mit einem Hartholzknüppel blutig geschlagen wurde.“ Von dort wurde er zusammen mit den Juden aus Joannina, Castoria, Trikkala und Larissa nach Auschwitz deportiert. Der Transport wurde in Larissa zusammengestellt und mit einem zweiten Zug mit Juden aus Athen zusammengeführt. In Larissa traf Leon den SS-Mann wieder, der ihn so brutal verprügelt hatte. Dieser erkannte ihn und da er wusste, dass Leon Deutsch sprach, wurde er von dem Transportleiter als Dolmetscher eingesetzt. Der Transport ging über Ungarn und Wien nach Auschwitz. Laut Auschwitz-Museum (Archiv) ist ein Mann mit Leons Häftlingsnummer 182183 am 11.4.1944 in Auschwitz angekommen. Auch hier halfen ihm seine Sprachkenntnisse. In seinem Lebenslauf für den Entschädigungsantrag schildert er die Ankunft in Auschwitz: „Bei unserer Ankunft in Auschwitz wandte ich mich an den diensttuenden SS Oberarzt, der mich dann sofort ebenfalls als Dolmetscher benutzte. Auf diese Weise kam ich nicht unter die Häftlinge, die nach Birkenau überführt wurden, sondern zu den arbeitsfähigen Häftlingen, einer Gruppe von 175 Mann, die in Auschwitz verblieben und später nach den anderen Lagern kamen.“ Von Auschwitz wurde Leon am 20.4.1944 in das Konzentrationslager Groß-Rosen und von dort in das zum Eulengebirge (Komplex Riese) (7 und 8) gehörende Arbeitslager Falkenberg überführt. Er musste dort Zwangsarbeit leisten. Vermutlich sollte die Anlage im Eulengebirge als Führerhauptquartier und als Ersatz zur bekannten Wolfsschanze dienen. Leon gibt folgende "Stationen" an: Säuferwasser, Eule, Tannhausen Lager V (Zentralbezirk Riese).
Leon, der 8 Sprachen beherrschte, fiel auch hier durch seine Kenntnisse der deutschen Sprache und seines kaufmännischen Fachwissens auf, und ihm wurde die Führung der Kochbuchhaltung im Lager übertragen. „Ich hatte dabei das Glück“, schreibt er in seinem Lebenslauf für den Antrag auf Entschädigung, „dass meine Buchhaltung immer stimmte. So machte ich mich unentbehrlich und behielt den Posten bis zur Auflösung des Lagers im Februar oder März 1945. Sämtliche Insassen wurden dann nach Bergen-Belsen gebracht bis auf die 100, unter denen ich mich befand, die den Betrieb der Küchen aufrecht erhalten sollten, da bei uns die SS-Leitung war ( ).“ In der Nacht zum 10. Mai 1945 wurde er im Lager Tannhausen befreit.“
Nach seiner Befreiung versuchte Leon ins Leben zurückzufinden. Er heiratete am 13.9.1955 ein zweites Mal. Seine Frau Roussa Tsoukala ist griechische Staatsangehörige und wurde am 18.2.1923 in Athen geboren. Leon und Roussa hatten sich in der Athener Firma kennengelernt. Sie zogen nach Berlin. Leon kämpfte zusammen mit seinem Sohn und seinem Bruder für eine Entschädigung der immensen Verluste. Isidor und Sylvio führten die Firma in Athen nach dem Krieg fort, aber es fehlte an Geld. Der Kampf um Entschädigung war zermürbend und langwierig. Er wurde dabei tatkräftig von Anna Hess bestärkt und unterstützt. Bei ihr war das Ehepaar nach seiner Rückkehr untergekommen. Die soziale und finanzielle Lage des Ehepaares war bedrückend, und auf Amts-und persönliche Unterstützung angewiesen zu sein, demütigend. Leon versuchte beruflich Fuß zu fassen, Teilhaber an einer Strumpf-, Strick- und Wirkwarenfabrik zu werden, doch dafür benötigte er Kapital, das er aus dem Entschädigungsverfahren zu bekommen erhoffte. Das Vorhaben scheiterte. Roussa wurde schwanger. Sie erkrankte an TBC. Angesichts des Scheiterns einer Entschädigung, die ihm ermöglicht hätte, annäherungsweise an seine frühere berufliche Existenz anzuknüpfen, müssen Leon Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung überwältigt haben. All dies trifft einen Mann, der infolge der Shoah, traumatisiert ist.
Leons Kraft hatte zum Überleben gereicht, nicht aber zum Leben. In der Nacht vom 7. Auf den 8. Dezember 1956 nahm er sich das Leben. ( 9) Sieben Wochen später, am 19.1.1957, wurde seine Tochter Carmen Sylvia geboren.
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