Johanne Riess kam am 29. November 1867 in Schlochau (Westpreußen) als Tochter des jüdischen Fleischers Selig Riess und dessen Ehefrau Ernestine, geb. Schneider, zur Welt. Sie hatte noch drei Brüder, die ebenfalls in der kleinen, ca. 125 km südwestlich von Danzig gelegenen Stadt Schlochau (polnisch Człuchów) geboren wurden: Samuel (*1870), Karl (*1874) und Jacob (*1877). Über die Kindheit und Jugend von Johanne Riess haben sich keine Informationen erhalten. Sie übersiedelte als junge Frau in die Reichshauptstadt, wo sie ihren Lebensunterhalt als Näherin verdiente.
Am 7. Oktober 1893 heiratete sie in Berlin den Malermeister Ernst Schäfer, geb. am 14. Juni 1869 in Güntersen (nahe Göttingen). Er war evangelisch. Im Jahr 1903 konvertierte Johanne zur Religion ihres Ehemannes.
Das Ehepaar bekam drei Kinder: Ella (1894–1895), Erich (*1896) und Kurt (*1900). Die Schäfers lebten im Laufe der Jahre an verschiedenen Adressen in der Gegend um die Petersburger Straße im Bezirk Friedrichshain.
Leider haben sich keine Zeugnisse erhalten, die einen Einblick in das Leben der Familie in den letzten Jahren des Kaiserreichs geben könnten. Der ältere Sohn Erich kämpfte als Soldat im Ersten Weltkrieg und fiel am 11. August 1918, wenige Monate vor Kriegsende. Erich war Johannes Lieblingssohn – sein Verlust hat ihr stark zugesetzt.
Der jüngere Sohn Kurt absolvierte eine Lehre als technischer Zeichner bei Orenstein & Koppel. Er wanderte 1921 in die USA aus und lebte dort bei seinem Onkel – Johannes jüngster Bruder Jacob Riess war bereits um 1900 in die USA emigriert. Kurt Schäfer arbeitete beim Automobilbau-Zulieferer Budd Company in Philadelphia, der u.a. Karosserien für Ford baute. Nebenher machte er im Abendstudium seinen Ingenieur. Von seinem Lohn schickte er seinen Eltern immer wieder per Brief ein paar Dollars nach Deutschland, damit sie sich in der Inflationszeit „mal satt essen konnten“. Die Schäfers hatten außerdem einen Schrebergarten in Biesdorf, in dem Johannes Ehemann, wenn er nicht arbeitete, viel Zeit verbrachte und Obst und Gemüse anbaute. Auch das half ihnen durch die schwierige Zeit Anfang der 1920er Jahre.
Kurt Schäfer gelang es, von seinem Lohn viel Geld anzusparen, das er in Gold-Dollars anlegte. Davon konnte er für seine Eltern Mitte der 1920er Jahre das Mietshaus Zorndorfer Straße 29 (heute Mühsamstraße 68) erwerben. Die Schäfers zogen dort 1925 ein und Johannes Ehemann, der schon kränklich war, konnte sich nun zur Ruhe setzen und von den Mieteinnahmen leben.
Kurt Schäfer heiratete 1926, nach seiner Rückkehr aus den USA, die Lehrerin Margarete Marohn (*1899 in Schlochau) und bekam mit ihr drei Söhne. Er arbeitete beim 1926 gegründeten deutsch-amerikanischen Unternehmen AMBI-Budd, das in Berlin-Johannisthal Kraftfahrzeug-Karosserien produzierte.
Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, war Johanne Schäfer zunächst durch ihre sogenannte „privilegierte Mischehe“ vor der zunehmenden Entrechtung und Verfolgung von Juden geschützt. Ihr „arischer“ Ehemann verstarb jedoch am 17. Oktober 1939 in seiner Wohnung an Herzmuskelentartung.
Dennoch entging Johanne Schäfer der Deportation und überlebte den Krieg in Berlin: Ihre Nachfahren vermuten, dass ein Verwandter ihrer Schwiegertochter, ein SS-Sturmbannführer, schützend seine Hand über sie hielt.
Ihr Sohn, der nach den Rassengesetzen der Nazis „Halbjude“ war, verlor 1943 seine Stelle als leitender Ingenieur bei AMBI-Budd und seine Patente. Doch auch er und seine Familie überlebten den Krieg.
Johannes Bruder Samuel Riess war es noch 1940 gelungen, in die USA zu emigrieren, wohin seine fünf Söhne bereits Mitte der 1930er Jahre ausgewandert waren.
Ihr Bruder Karl Riess wurde in der Shoa ermordet: Er wurde von Berlin am 17. März 1943 mit dem 4. großen Alterstransport nach Theresienstadt und von dort am 18. Dezember 1943 nach Auschwitz verschleppt. Karls Sohn Siegbert Riess wurde mit seiner Ehefrau Minna, geb. Lewinsky, am 19. Februar 1943 mit dem 29. Osttransport nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Johanne Schäfer starb am 20. Juni 1947 im Martin-Luther-Krankenhaus in Berlin an Lungenkrebs.
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