Dr. Rudolf Löwenstein

Verlegeort
Sächsische Straße 48
Bezirk/Ortsteil
Wilmersdorf
Verlegedatum
24. September 2024
Geboren
1899 in Köln
Deportation
am 26. Februar 1943 nach Auschwitz
Ermordet
in Auschwitz
Biografie

Rudolf „Rudi“ Löwenstein wurde 1899 in Köln geboren, ging dort auf die Schule Kreuzgasse und hat etwa 1918 die Schule mit dem Abitur abgeschlossen. Ein Eintrag in der Schülerliste von 1910/11 verzeichnet ihn als Schüler der Quarta. Nach dem Abschluss studierte Rudolf Wirtschaftswissenschaften an der Universität Frankfurt am Main und wurde dort im Jahr 1922 mit einer Dissertation zum Thema „Kalkulationsgewinn und bilanzmässige Erfolgsrechnung in ihren gegenseitigen Beziehungen“ promoviert. Das ging noch schnell damals, aber die Wirtschaftswissenschaften waren ja auch gerade erst zu einem wissenschaftlichen Studienfach aufgewertet worden. Ein Exemplar der Dissertationsschrift ist in der Deutschen Nationalbibliothek vorhanden. 

Das heutige Gymnasium Kreuzgasse, das es an anderem Standort in Köln immer noch gibt, wurde 1828 als erste städtische höhere Schule Kölns gegründet. Der erste Standort der Schule war in St. Alban, in einem Stadtteil, in dem viele jüdische Bürger wohnten. Schon von den Anfängen an wurde die Schule verstärkt von jüdischen Jungen besucht. Es ist bemerkenswert, dass die damalige höhere Bürgerschule im Februar 1858 als erste Schule in Köln Jüdische Religionslehre einführte. Der von Rabbiner Dr. Schwarz erteilte Religionsunterricht war für die damals 50 jüdischen Schüler der Kreuzgasse verpflichtend. Die katholischen und evangelischen Schüler erhielten Religionsunterricht entsprechend ihrer Konfession.

In den letzten Jahrzehnten hat das Gymnasium Kreuzgasse eine beeindruckende Kultur der Erinnerung an seine vielen jüdischen Schüler entwickelt. Für Rudi wurde ein Stolperstein vor seiner ehemaligen Schule im Jahr 2019 verlegt, für seinen jüngeren Bruder Wilhelm bereits im Jahr 2017. Insgesamt liegen dort bereits etwa 40 Stolpersteine.

Nach dem Studium ist Rudi Löwenstein nach Berlin gezogen, wann genau wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, wo und in welcher Funktion er gearbeitet hat. In Berlin heiratete er am 24. Mai 1933 Ida Helene „Leni“ Hannes im Standesamt Wilmersdorf. Leni war 1907 in Frankfurt geboren und lebte mit ihren Eltern Paul und Anna Hannes in der Waitzstraße 7 in Charlottenburg. Im Berliner Adressbuch von 1933 steht der Eintrag des Haushaltsvorstands Paul Hannes an dieser Adresse. Leni war Antiquarin. Wann und wo sie den Beruf erlernt hat und ob und wo sie in ihrem Beruf gearbeitet hatte ließ sich bisher nicht herausfinden.

Gemäß der Heiratsurkunde vom Mai 1933 lebte R. Löwenstein in Wilmersdorf in der Düsseldorfer Straße 35. 1933 ist sein Name im Adressbuch dort aber nicht zu finden, auch 1934 nicht. Wahrscheinlich wohnte er zur Untermiete.

Einige Zeit nach der Hochzeit zog das frischgebackene Ehepaar in die wunderschöne Schwendener Straße in Dahlem, Hausnummer 49. Die Villen dort sind beeindruckend. Im Adressbuch 1935 findet sich dort erstmals ein Eintrag - das heißt sie dürften dort kurz nach der Geburt ihrer ersten Tochter Ulla im Jahr 1934 hingezogen sein. Ihr Vermieter war ein Dr. Günther Heubel, Generaldirektor der Annahütte, in der Niederlausitz. Auch Lenis Eltern Paul und Anna wohnten dort im Haus, aber in einer eigenen Wohnung. Dieser Vermieter übrigens muss ein überzeugter Nationalsozialist gewesen sein. Er war einer der Teilnehmer des Treffen Hitlers mit Industriellen im Februar 1933, bei dem eine Wahlkampfhilfe von drei Millionen Reichsmark für die NSDAP beschlossen wurde und beging gegen Kriegsende bei Ankunft der russischen Soldaten Selbstmord.

Auch 1936 und 1937 wohnte die Familie in der Schwendener Straße. Hier dürfte auch ihre jüngste Tochter Ruth ihr erstes Lebensjahr verbracht haben.

Im Adressbuch 1938 findet sich dann aber eine neue Anschrift: Spechtstraße 16 in Dahlem. Auch das muss schon damals eine wunderschöne Gegend gewesen sein; viele der alten Villen stehen auch heute noch. Das Haus Nr. 16 ist aber inzwischen ein neugebautes Einfamilienhaus. Rudi und seine Familie wohnten wohl zur Miete, denn als dort ebenfalls wohnende Eigentümerin des Hauses ist eine Baronin Maria von der Osten-Sacken verzeichnet. Sie war zu Beginn der 1920er- Jahre in Deutschland unter ihrem Mädchennamen Maria Leeser eine sehr bekannte Tänzerin. 

1939 oder 1940 gab es einen großen Umbruch in den Wohnverhältnissen der Familie Löwenstein. Ob dieser Umbruch wegen nachbarschaftlichen Feindseligkeiten, aus staatlicher Verfolgung, aus wirtschaftlichen Gründen oder aus einer Mischung von allem erfolgte, wissen wir nicht. Ab 1940 jedenfalls ist Rudi Löwenstein nicht mehr als Haushaltsvorstand in den Berliner Adressbüchern zu finden. Wir wissen, dass er ab dem 15. Dezember 1941 mit seiner vierköpfigen Familie zur Untermiete bei Lenis Eltern Paul und Anna Hannes hier in der Sächsischen Straße 48 wohnte. Die Eltern lebten schon seit April 1937 dort. Auch wenn dieses ein sehr schönes und großzügiges Haus ist; verglichen mit den Wohnverhältnissen der Familie in Berlin-Dahlem war das ein Abstieg, zurück in die Wohnung der Schwiegereltern zu ziehen.

Ostern 1940 war dann die Einschulung von Ulla. Die Einschulungskarte ist in den Arolsen Archives erhalten. Ab dem 1. April besuchte Ulla die 1. Klasse der jüdischen Volksschule Nr. 8. Die Schule war in der Joachimsthaler Straße 13, im Norden von Wilmersdorf, kurz vor dem Kurfürstendamm. Das Gebäude steht noch und beherbergt heute wieder jüdische Einrichtungen.

Dann ist auch der Name von Lenis Vater Paul nicht mehr als Haushaltsvorstand im Berliner Adressbuch zu finden. Er musste am 15. Mai 1942 mit seiner Frau Anna in beengte Verhältnisse, in eine Judenwohnung (vermutlich nur ein Zimmer), in der Dahlmannstraße 27 in Charlottenburg umziehen. Von dort aus wurden sie am 9. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden und kamen bald darauf ums Leben. 

Schon kurz vorher, am 30. März 1942, musste Rudi mit seiner Familie die Wohnung in der Sächsischen Straße 48 verlassen und in ein Judenhaus umziehen. Wir wissen, dass die letzte Unterkunft der Familie Löwenstein vor der Deportation in der Seesener Straße 50 in Wilmersdorf war. Unter dieser Adresse schrieb er am 31. Oktober 1942 einen Brief, an die Familie von Lenis Großcousins Berthold in Hamburg. 

„Ihr Lieben,

heute bekommt Ihr einen richtigen Familienbrief, ... Bei uns ist Gott sei Dank weiterhin alles unverändert... bietet die Arbeit in den letzten Wochen, es geht durchschnittlich alle 8-14 Tage ein Polentransport, keinen solch starken Schutz mehr wie bisher. Von Siemens scheint man aber die Leute weiterhin nur in besonders gelagerten Fällen wegzuholen, wann ein solcher Fall aber vorliegt, lässt sich nie mit Bestimmtheit sagen. ...

Ich möchte Euch demnächst noch einige Sachen von persönlichem Wert senden, insbesondere unsere selbstaufgenommenen Kinofilme von unseren Kindern und unseren Reisen; sollten wir doch mal im Osten verschellen und nicht mehr wiederkommen, so bleiben sie wenigstens in der Familie und sollten wir durch ein Wunder davon verschont bleiben bzw. mal wieder in der Kulturwelt auftauchen, so möchten wir, wenn wir schon sonst nicht viel werden retten können, wenigstens solche rein persönlichen Erinnerungswerte mal wiedersehen. ...

Wir werden, wenn wir es überleben, und wenn es mal soweit ist, natürlich alles tun, um die Verbindung mit Euch aufzunehmen. Ich nehme an, dass zur gegebenen Zeit Organisationen ins Leben gerufen werden, um die in vielen Fällen Verschollenen wieder aufzufinden. Es könnte aber auch sein, dass uns das aus irgendwelchen Gründen nicht möglich ist, z.B. Mangel an Mitteln, oder es könnte auch sein, dass zwar die Kinder es überleben, aber wir nicht. Aus diesem Grunde bitte ich Euch, auch von dort aus alsdann alles zu tun, um unseren oder unserer Kinder Aufenthaltsort ausfindig zu machen, und Euch gegebenenfalls soweit möglich unserer Kinder anzunehmen. ...

Mehr Dispositionen, die man heute schon treffen könnte, fallen mir für den Augenblick nicht ein. Wenn ich auch hoffe, dass all diese Dispositionen sich mal als überflüssig erweisen, so möchte ich Euch doch bitten, dieses „Testament“ gut aufzubewahren. Jedenfalls danke ich Euch schon im Voraus für alle Mühen, die Ihr evtl. mal damit haben solltet.

Alles weitere überlasse ich Leni. Daher nur noch viele herzliche Grüsse für Euch alle

Euer Rudi

Am 30. Januar 1943 war Rudi noch im Notariat Bruno Wertheim, um für Bertholds Sohn Klaus eine Generalvollmacht auszustellen. Aufgrund der Berufsangabe, die er dem Notar gegenüber machte, wissen wir, dass der Dr. rer. pol. Rudolf Löwenstein als Dreher bei Siemens arbeiten musste. In den Arolsen Archives ist als Eintrittsdatum bei den Siemens – Schuckert -Werken, einem für den Einsatz von Zwangsarbeitern berüchtigtem Unternehmen der Elektroindustrie, der 10. März 1942 als Maschinenarbeiter vermerkt. Der Fabrikstandort war an der Nonnendammallee in Spandau.

Bald danach, am 26. Februar 1943, wurde die ganze Familie Löwenstein vom Güterbahnhof Moabit mit dem sog. 30. Ost-Transport nach Ausschwitz deportiert. Zwischen 1942 und 1944 gingen die Deportationszüge vom Güterbahnhof Moabit ab, von den Gleisen 69, 81 und 82. Am Güterbahnhof Moabit gibt es seit einigen Jahren eine Gedenkstätte.

Zusammen mit 7 weiteren Bewohnern der Seesener Straße 50, 890 anderen jüdischen Menschen aus Berlin und 200 Menschen aus anderen Städten musste sich die Familie einen oder einige Tage zuvor vermutlich im Sammellager Große Hamburger Straße 26 einfinden. Dieses im ehemaligen jüdischen Altersheim eingerichtete Lager wurde in der Zeit von Juni 1942 bis März 1944 als Durchgangslager genutzt. In Auschwitz ist der Zug am 27. Februar 1943 - nach anderen Quellen am 28. Februar - angekommen. Dort verliert sich die Spur der Familie Löwenstein. Wir wissen, dass bei der Ankunft des Zuges in Auschwitz von den rund 1100 Deportierten 156 Männer und 106 Frauen eine Häftlingsnummer erhielten, alle anderen Menschen sind sofort ermordet worden. Die kleine Ruth wird ihren 6. Geburtstag 3 Tage später nicht mehr erlebt haben.